Das Internet ist immer verfügbar. Aaaber wir nicht!
Nur weil wir immer erreichbar sind, heißt es nicht, dass wir auch immer verfügbar sein müssen. Doch es scheint die Welt erwarte genau das von uns.
Die Welt läuft immer Schneller, die nächste Krise ist nur eine Push-Benachrichtigung entfernt. Inflation, Klimakrise, Krieg im nahen Osten, die Ukraine wird überfallen, der erste AfD-Bürgermeister kommt ins Amt, die Demokratie in Frankreich kommt ins Wanken, die AfD ist seit Wochen zweitstärkste Kraft in Deutschland, Österreich steht vor einer Rechts-Außen-Regierung, Berlin kürzt plötzlich alle Gelder für Bildung, ÖPNV - und naja, eigentlich so ziemlich alles. Trump kommt an die Macht, im Bundestag werden plötzlich Mehrheiten mit der AfD zusammen gebildet. Und wir? Wir demonstrieren gegen den Klimawandel, diskutieren mit unseren Großeltern über den Umgang mit Nazis, wir canceln Menschen und fragen uns teilweise ob nicht wir uns auch schon lange canceln müssten. Wir verkaufen Uniinventar und widersetzen uns der AfD. Wir gestalten hier ein Plakat und dort einen Flyer, drehen ein Video um für Klimagerechtigkeit zu kämpfen und schreiben eine Rede für die nächste Pressekonferenz. Wir schreiben einen Kommentar unter ein Insta-Reel, melden ein anderes auf TikTok. Wir treffen Freundinnen zum arbeiten, arbeiten um Freunde zu treffen. Wir versuchen für einander da zu sein und merken doch immer wieder wie kaputt wir alle sind.
Wann haben wir die ständige Verfügbarkeit vom Internet auf uns übertragen? Diese Website ist nur dann verfügbar, wenn sie aufgerufen wird. Sie ist nur dann lesbar, wenn sie gelesen wird.
Erst wenn du dir diese Seite ansiehst, geht ein Licht in einem Kasten an, erst wenn das Licht an ist, kannst du das hier überhaupt lesen. Und wenn du nur lange genug wartest, dann gibt ein weiterer Mensch seine Gedanken frei.
Wir können nicht immer verfügbar sein, wir können nicht mal immer für einander da sein.
Wir brauchen auch mal Zeit für uns, brauchen mal Ruhe, brauchen auch mal Orte, an denen wir alleine sein dürfen. Wir brauchen Wenn wir immer für alle und alles da sein wollen, dann fällt eine Person als erstes hinten runter: du selbst.
Ich laufe beim Zähneputzen Kreise, manchmal auch Achten.
Wenn die U-Bahn erst in 3 Minuten kommt, gehe ich einmal zum anderen Ausgang raus und wieder zurück um nicht warten zu müssen. Ich tippe ohne dass ich es merke von einem Fuß auf den anderen, wenn der Bus zu lange an einer roten Ampel steht, auch wenn ich gut in der Zeit liege. Wenn ich merke, ich könnte einen Tag Frei haben, organisiere ich einen Fahrrad-Reparier-Tag um etwas zu tun zu haben. Wenn ich merke, ich könnte zwei Minuten vor der Zeit ankommen, überlege ich, was ich in der Zwischenzeit erledigen könnte. Wenn alle Stricke reißen kann ich mich noch immer mit Freund:innen verabreden. Ich muss mich nicht mit mir beschäftigen.
Ich renne schnell. Ich renne zum nächsten Termin, bei dem ich auch schon wieder zu spät bin. Mein ganzes Leben ist ein Rennen, ein Rennen gegen die Zeit. Ich habe mindestens zweimal pro Woche zwei Termine zur selben Zeit, ich renne morgens zur Bahn, mittags zum Essen und abends durch die Weltgeschichte. Ich würde so gerne auch mal laufen. Aber mein leben läuft gerade wirklich nicht. Es rennt, es rennt mit allem was Beine hat - ich hab mich hier jetzt verrannt aber weißt du was ich meine?
Meine Oma vermisst mich, ich sie ja auch. Aber mein Freund wartet auch schon länger auf eine Antwort.
Eine neue Nachricht: die Abgabe für morgen ist noch nicht fertig. Ich muss aber auch noch beim Bürgeramt anrufen, dafür ist es heute aber zu spät. Die 2439. ungelesene Nachricht auf Signal. Eine neue Eilmeldung: die Regierung ist geplatzt - wie mein Kopf. Ich bekomme eine eMail aber mein eMail-Programm kann ich auch schon länger nicht mehr öffnen, weil mein Speicher voll ist. Auf irgendeinem Messenger war jetzt diese eine Nachricht die ich raussuchen wollte, für was habe ich aber vergessen, ich vergesse gerade sowieso recht viel. Ein Anruf von einem alten Freund, er wird mir das verzeihen wenn ich nicht rangehe - hoffe ich. Ich hatte ihm vor Wochen schon versprochen einen Termin für ein Treffen zu finden. Vinted schickt auch Benachrichtigungen, aber die sind nicht wichtig. Ich hatte gestern 108 Anrufe, an 46 davon bin ich sogar dran gegangen. Meine Bank braucht irgendwelche Daten aber ich komm nicht in die App weil Face-ID schon wieder nicht mehr funktioniert. Es sind jetzt 2477 ungelesene Nachrichten auf Signal und Oma ruft an.
Die Brauerei hat es noch nie beworben, es gelangte durch Hacker nach Berlin und dann schnell in die Partyszene: Was beim ersten Mal nach Kippenwasser schmeckt, schmeckt auch beim zweiten Mal danach. Aber nach dem 3. Probieren - und glaub mir, das passiert spätestens vor der nächsten Klausur - ist es erstaunlich gut. Und in erster Linie: Es macht dich wach. Mate soll ein Getränk der linken, der antikapitalistischen und der Partyszene sein - für mich stellt es aber die voll ends kapitalisierte Haltung dieser dar. Es bringt dich zu neuen Höchstleistungen, du kannst produktiv sein, trotz deinem Schlafmangel, schaffst es weiter zu arbeiten, obwohl dein Körper eigentlich nicht mehr kann und tanzt in die Nacht obwohl du den ganzen Tag gearbeitet hast. Das einzige, was das alles noch mehr auf die Spitze bringt sind Koffeintabletten. Hier musst du nicht mal mehr trinken, dich nichtmehr an einen komischen Geschmack gewöhnen, du bist einfach Wach. Auf Knopfdruck. Jederzeit.
Im Norden von Grönland wohnen in etwa 900 Menschen.
Dazu kommen nochmal 5 Journalist:innen, die pro Saison eine Reportage über das Leben dort drehen wollen. Wenn die sich mit einem Inughuit da zu einem Interview verabreden, können die sich darauf verlassen, der Termin wird noch mindestens zwei Mal verschoben, mit etwas Glück dann sogar noch bevor du vor der Tür stehst. Wenn ein Inughuit sich gerade nicht danach fühlt, gibt es auch erstmal kein Interview. Es geht nicht um Terminkalender und abgehakte ToDo Listen, vielleicht ist es genau das, was uns fehlt. Durch das ständige fokussieren darauf, allen zu gefallen, niemandem auf den Fuß zu treten und möglichst verlässlich zu sein haben wir glaube ich eins vergessen: Das Leben ist nicht verlässlich, warum sollten wir es sein? Verlässlich Unverlässlich wäre viel ehrlicher.
Wenn Musik nicht mehr Hilft, dann hab ich nen Problem.
Aber vorher nicht, ich habe mein Leben im Griff, ich kann Gefühle ausblenden, frei entscheiden, wann ich eine Esstörung haben möchte - und wann lieber ein Alkoholproblem.